Quelle: Die Geschichte der Deutschen
(in 12 Bänden, 1984 Bertelsmann Lexikon Verlag) Autor: Heinrich Pleticha
Es ist nicht einfach, nach den geschichtlichen Anfängen der deutschen Stämme zu suchen; denn eine geradezu verwirrende Vielfalt kennzeichnet die frühen Spuren. Nicht Sesshaftigkeit und langsames, stetes Wachsen, sondern Bewegung, Unruhe, Verschiebungen, Neben-, Gegen- und nur gelegentliches Miteinander lassen sich aus diesen Spuren ablesen, die wir bis weit in die germanische Zeit zurückverfolgen können.
Die große germanische Völkerfamilie hatte sich seit dem zweiten vorchristlichen Jahrtausend von ihrer Urheimat in Südskandinavien und Schleswig-Holstein weithin über Mittel-, West- und Osteuropa verbreitet und war in drei große Gruppen mit wiederum zahlreichen Stämmen zerfallen. Während eine dieser Gruppen, die Nordgermanen, weiterhin in Skandinavien siedelten, gingen aus den Ost- und den Westgermanen jene Völkerschaften hervor, die dann ihrerseits die deutschen Stämme bildeten. Es ist jedoch unmöglich, ihre Siedlungsräume in vorchristlicher Zeit genau zu lokalisieren, so daß man sich beim heutigen Stand der Forschung mit ungefährer Orientierung und Einteilung in größere Gruppen wie Elbgermanen oder Rhein-Weser-Germanen begnügen muss.
Die Römer kannten diese Germanen, die seit dem 1. Jahrhundert v. Chr. verschiedentlich ihre Grenzen bedrohten, aber der Versuch, die Stämme östlich des Rheins zu unterwerfen endete mit einer schweren Niederlage. Im Jahre 9 n.Chr. vernichten die Cherusker unter der Führung des Arminius, wie ihn die Römer nannten, zusammen mit den Kriegern einiger anderer Stämme in der Schlacht im Teutoburger Wald drei römische Legionen. Als sich die Römer vom Schock dieser blutigen Niederlage erholt hatten, versuchten sie zwar in den folgenden Jahren noch mehrfach, die Scharte auszuwetzen, aber im Jahr 16 gaben sie endgültig auf und beließen die germanischen Stämme östlich des Rheins außerhalb ihrer Herrschaft.
Für kurze Zeit war es Arminius gelungen, infolge der Bedrohung durch die Legionen mehrere germanische Stämme zwischen Rhein und Weser zu einigen. Fast zur gleichen Zeit schuf der Markomannenkönig Marbod in Böhmen ein erstes germanisches Reich, dem sich umwohnende Stämme anschlossen. Uneinigkeit und Zwietracht, alte Erbübel der Germanen, zerstörten schon nach wenigen Jahren die Einigungsversuche Armins und Marbods. Der eine fiel im Kampf gegen seine Feinde, der andere flüchtete zu den Römern und starb im Exil.
Germania- ausführlichster Bericht aus römischer Feder
Die Verbindungen des freien Germanien zu den Römern rissen nicht mehr ab, und ihnen verdanken wir auch das wichtigste antike Zeugnis über die germanischen Stämme. Der römische Geschichtsschreiber P. Cornelius Tacitus, der
etwa von 54 bis 120 n.Chr. lebte, sammelte sorgfältig die Nachrichten über die Germanen, wie sie ihm römische Offiziere und Händler von ihren Reisen in die Gebiete östlich des Rheins mitbrachten, und fasste die Ergebnisse
seiner Studien und Nachforschungen in der Germania
zusammen, einem kleinen, für die deutsche Stammesgeschichte aber höchst gewichtigen Bändchen. Er berichtete über Leben und Alltag der Germanen, über Rechtswesen und
Götter, gab aber auch Hinweise auf die Gliederung der Stämme und deren Wohnsitze. Während Caesar in seinem Werk über den Gallischen Krieg
eineinhalb Jahrhunderte zuvor nur etwa zwanzig aufgezählt hatte,
nannte Tacitus nun schon über sechzig Stämme beiderseits des Rheins. Trotzdem waren keineswegs alle erfasst, da es zahlreiche winzige Völkerschaften gab.
Unter den vielen von Tacitus überlieferten Namen tauchen schon einige sehr bekannte auf, die im Lauf der folgenden Jahrhunderte noch erhöhte Bedeutung erlangen sollten. Die schon erwähnten Cherusker und Markomannen waren natürlich darunter, dann die Bataver im Rheindelta, die Chatten im Einzugsgebiet von Fulda und Lahn, die als Vorfahren der heutigen Hessen gelten, die Friesen an der Küste, die in der Folgezeit Namen und Siedlungsgebiete nicht mehr wechselten, die Sueben, die später den von ihnen abstammenden Schwaben den Namen gaben, die Langobarden und die Goten.
Viele Namen verwirren für den ersten Augenblick. Noch suchen wir hier vergeblich nach einer festen Ordnung. Sie läßt sich aber auch für die nächsten vierhundert Jahre nach Tacitus nicht finden. Im Gegenteil: seit etwa der Mitte des 2. nachchristlichen Jahrhunderts gerieten die germanischen Stämme in Bewegung. Ein sich steigender Druck asiatischer Reitervölker im Osten wirkte zuerst auf die Goten, die nach Süden auswichen. Und wie ein Stein, der ins Wasser geworfen wird, jene Wellen auslöst, die sich ausweitend fortbewegen, so war es auch mit diesen Wanderungen. Sie verschoben nicht nur über Jahrhunderte hinweg die Wohnsitze der Stämme, sondern veränderten auch mehrfach deren Gefüge. Viele verschwanden aus der Geschichte, andere schlossen sich zusammen, und aus solchen Zusammenschlüssen jene neuen, deren Namen uns heute noch geläufig sind.
So gingen zu Beginn des 3. Jahrhunderts aus den Semnonen, einem Unterstamm der Sueben, die Alemannen (auch Alamannen) hervor. Vom Obermaingebiet, wo sie ursprünglich siedelten, zogen sie nach Süden in das heutige Elsaß, die Nordschweiz und das Land zwischen Iller und Lech. Aus dem Zusammenschluss einiger Stämme am Niederrhein entstanden wenig später die Franken, die in der Geschichte eine so wichtige Rolle spielen sollten.
Gegen Ende des 3. Jahrhunderts gab es insgesamt sieben bedeutende germanische Stämme. In Norddeutschland siedelten die Sachsen, deren Wohngebiet sich ungefähr mit dem heutigen Niedersachsen deckt. Am Niederrhein lebten die
Franken. Das Kernland der Alemannen lernten wir eben kennen. Auch östlich der Elbe siedelten suebische Stämme, an die sich nach Osten hin Burgunder, Vandalen und Goten anschlossen. Dieses schöne Schema gleicht aber einer
Momentaufnahme: denn schon Ende des 4. Jahrhunderts setzten jene großen Bewegungen ein, die wir summarisch als Völkerwanderung
bezeichnen. Die welthistorisch bedeutsamen
Züge der Goten und Vandalen führten hinaus aus den alten Siedlungsgebieten, die Sueben zerfielen, und ihr Name allein blieb den Alemannen erhalten. Die Burgunder wanderten
von ihren Siedlungsgebieten zwischen Weichsel und Oder nach Westen, überschritten den Rhein und drangen in römisches Gebiet ein, wo ihnen 436 durch den römischen Statthalter
Aetius und dessen hunnischen Verbündeten eine schwere Niederlage bereitet wurde. Die letzten Reste des Stammes siedelten sich in der heutigen französischen Landschaft Burgund
an, die Erinnerung an die vernichtende Niederlage aber lebt fort in der Nibelungensage. Am wenigsten betroffen von diesen Wanderungen waren Sachsen, Franken und Alemannen. Sie
bildeten den Kern jener Stämme, aus denen in den folgenden Jahrhunderten die wichtigsten deutschen Herzogtümer hervorgingen.
Einigungeiniger Stämme durch die Merowinger
Die Anfänge waren dabei ganz bescheiden, kaum merklich und sind auch von der Wissenschaft nur schwer zu registrieren. Die Franken beispielsweise wurden erstmals schon 258 als unbedeutender Stamm erwähnt. Eineinhalb Jahrhunderte lang begegnen wir ihnen dann verschiedentlich in den Gebieten beiderseits des Rheins. Unruhige Krieger waren es, die als Seeräuber die westeuropäischen Küsten bedrohten, aber auch in das römische Gallien vorstießen und die dort lebenden Römer bedrängten. Um 500 gelang dann einem ihrer Anführer die Einigung der verschiedenen kleinen fränkischen Stämme. Es war Chlodwig, aus dem Geschlecht der Merowinger, ein ebenso kühner wie skrupelloser und brutaler Mann. In den dreißig Jahren seiner Herrschaft rottete er erst seine Rivalen aus, vernichtete dann die letzten Reste römischer Herrschaft auf gallischem Boden, kämpfte schließlich gegen seine germanischen Nachbarn und hatte bis zu seinem Tod 511 nicht nur ein großes Frankenreich geschaffen, sondern damit auch das politische Schwergewicht eindeutig vom Mittelmeer nach West- und Mitteleuropa verlagert. Während seiner Herrschaft unterwarf Chlodwig auch die benachbarten Alemannen, und seine Söhne eroberten das Reich der Thüringer.
Diese Thüringer waren aus einer Vermischung kleinerer Völkerschaften beiderseits der mittleren Elbe hervorgegangen. Wir begegnen hier dem Phänomen der sich in der späteren deutschen Geschichte noch mehrfach wiederholenden Bildung eines neuen Stammes. Ähnliches erleben wir auch bei den Baiern, deren Herkunft heute noch für die Forschung umstritten bleibt und die möglicherweise um die gleiche Zeit, da die Thüringer von den Franken unterworfen wurden, aus dem böhmischen Raum im heutigen Bayern einwanderten. Vielleicht läßt sich ihr Name deshalb aus Boiahenum = Böhmen ableiten.
Der Sieg über die Thüringer hatte den Franken das Maintal geöffnet, und allmählich schoben sie, flussaufwärts vordringend, einen Keil zwischen die sächsischen und thüringischen Stammesgebiete im Norden und den alemannischen und baierischen Gebiete im Süden. Als dann gegen Ende des 7. Jahrhunderts die Völkerwanderung ausklang, hatte sich das Stammesgefüge im heutigen deutschen Sprachraum weitgehend verändert. Die verwirrende Vielfalt der germanischen Zeit war einer neuen großräumigen Gliederung gewichen. An Rhein und Main saßen nun die Franken, nördlich von ihnen zwischen Saale und Oberlauf der Weser die Thüringer und westlich die Hessen. Nach Norden schlossen sich die Sachsen an, während die Friesen nach wie vor an der Nordseeküste siedelten. Südlich des Mains lebten zwischen Rhein und Lech die Alemannen und östlich davon zwischen Donau, Lech, Alpen und Enns die Baiern.
Diese Gliederung erleichtert die Übersicht und trägt wesentlich zum Verständnis der historischen Entwicklung in den folgenden tausend Jahren bei; denn ein Blick auf die Geschichtskarten zeigt deutlich, dass aus den Stammesgrenzen allmählich die Grenzen der deutschen Herzogtümer hervorgingen.
Alemannen und Thüringer waren, wie wir hörten, schon früh unter die Herrschaft der fränkischen Könige gezwungen worden. Die Baiern konnten unter dem Herzogsgeschlecht der Agilolfinger vorerst noch eine gewisse Selbständigkeit bewahren. Frei blieben Sachsen und Friesen. Als Karl der Große aus dem Geschlecht der Karolinger die Herrschaft über das Frankenreich übernahm, endete auch ihre Unabhängigkeit. 772 begann Karl seine Kriege zur Unterwerfung der Sachsen, die auf beiden Seiten mit großer Erbitterung geführt wurden. Nach Anfangserfolgen der Franken erreichten sie ihren Höhepunkt mit dem Aufstand der Sachsen unter Widukind und dem furchtbaren Strafgericht Karls in Verden an der Aller, wo 782 - den Reichsannalen zufolge, heute aber bestritten - an einem Tag 4500 Sachsen hingerichtet wurden. Erst 804 klangen Aufstände und Kämpfe aus, war der sächsische Stamm fest der fränkischen Herrschaft unterworfen. Fast unbeachtet wurden daneben auch Friesland in das Frankenreich eingegliedert und das agilolfingische Stammesherzogtum durch die Absetzung des letzten Herzogs Tassilo beseitigt.
Damit aber war wieder eine Phase in der Entwicklung der deutschen Stämme abgeschlossen. Von nun an blieb ihre Geschichte eng verbunden mit der Geschichte des Frankenreiches und des aus ihm erwachsenden deutschen Reiches. Doch läßt sich das Eigenleben der Stämme auch weiterhin deutlich verfolgen. Es gehört zu den besonderen Kennzeichen deutscher Geschichte, daß sich diese im Gegensatz zur englischen oder französischen im Spannungsfeld von Einheitsstreben und stammesmäßig geprägtem Partikularismus entwickelt. Gemeinsam mit den Königen als Vertretern der Zentralgewalt, oft genug aber auch im bewußten Gegensatz zu ihnen, lösten die Stammesherzöge seit dem 10. Jahrhundert wichtige Aufgaben, vor allem in den neuen Siedlungsgebieten. Gerade bei der Sicherung der stets bedrohten Grenzen festigten einzelne Herzöge ihre Position - auch gegenüber dem Kaiser.
Herzland des neuen deutschen Reiches war anfangs Franken. Nicht mehr das ganze alte karolingische Herrschaftsgebiet, sondern Ostfranken, wie das Land an Mittelrhein und Main genannt wurde und wo bis zum Beginn des 10. Jahrhunderts die Babenberger als Herzöge residierten. Sie hatten ihren Namen nach einer Burg, die an der Stelle des heutigen Doms von Bamberg stand. Ob dieses Geschlecht zu den Vorfahren jener Babenberger gehört, die Markgrafen der Ostmark und spätere Herzöge von Österreich wurden, läßt sich nicht sicher belegen, aber vielleicht reicht doch eine Brücke vom Obermain hinüber nach Wien.
Altes fränkisches Stammesgebiet lag auch links des Rheins und war durch die Reichsteilung von 870 dem Westfrankenreich zugefallen. Als Lothringen kehrte ein Teil davon wieder zum Reich zurück. Der Name weist dabei schon auf die Eigenart dieses Herzogtums hin. Als Lotharingien, das Land des Königs Lothar, war es ein Reichsteil ohne Stamm, war fränkisches Land, groß genug, um schon seit dem 10. Jahrhundert in zwei Herzogtümer aufgeteilt zu werden, die beide sich im Lauf der Zeit wieder aus dem Reichsverband lösten. Niederlothringen umfaßte die heutigen Niederlande, einen Teil Belgiens und das heutige Mittel- und Niederrheingebiet. Oberlothringen war das Land zwischen Saone, Vogesen, Eifel und Maas, das jahrhundertelang eine Mittelstellung zwischen Frankreich und Deutschland einnahm, dessen Herzöge meist klug paktierten, zeitweilig der einen und dann wieder der anderen Seite zuneigten, bis das ganze Gebiet im 18. Jahrhundert endgültig an Frankreich fiel.
Gehörten zum fränkischen Stamm somit zwei und nach der Teilung Lothringens sogar drei Herzogtümer, so gab es für die Thüringer gar keines. Nur kurze Zeit hatte im 5. und 6. Jahrhundert beiderseits der Saale ihr kleines Königreich bestanden, bis es von den Franken zerstört worden war. Danach fiel das Gebiet nördlich der Unstrut den Sachsen zu, östlich der Saale drangen Slawen in das Land, und der Süden kam zum späteren fränkischen Herzogtum. Auch in den folgenden Jahrhunderten erreichte keines der thüringischen Adelsgeschlechter die Herzogswürde.
Ganz anders dagegen verlief die Entwicklung bei den Sachsen. Noch ehe sie sich nach ihrer blutigen Unterwerfung durch Karl den Großen richtig in das Frankenreich eingefügt hatten, brach dieses auseinander. Drohende Gefahren von außen, gegen die sich die schwachen letzten Karolingerkönige nicht schützen konnten, wie etwa der Druck der Slawen auf die Stammesgrenze im Osten oder die steten Angriffe der Normannen von Norden her, erzwangen wirkungsvolle Selbsthilfe und damit eine starke zentrale Stammesführung, die schließlich das Geschlecht der Liudolfinger übernahm. Sie wurden nicht nur sächsische Herzöge, sondern seit dem 10. Jahrhundert auch die ersten deutschen Könige. Als das Geschlecht 1024 ausstarb, fiel Sachsen an die Billunger.
Südlich der mainfränkischen Schranke behaupten die beiden großen süddeutschen Stämme ihre zu Ausgang der Völkerwanderung erworbenen Wohnsitze, aus denen ebenfalls zwei Herzogtümer hervorgingen. Das alemannische Stammesgebiet vom heutigen Elsaß bis zum Lech und vom schwäbisch-fränkischen Stufenland bis zum Engadin bildete das Herzogtum Schwaben, in dessen Mittelpunkt der Bodensee lag. Östlich des Lech begann das Herzogtum Baiern. Als Folge jener Siedlungs- und Kolonisationsbewegung, von der im folgenden noch ausführlich die Rede sein wird, schob es seine Nordgrenze über die Donau hinaus und umfaßte im Südosten auch Kärnten und die Steiermark.
In diesen neuen Grenzen entfalten sich die alten Stämme und konnten im Lauf des Mittelalters wichtige politische, kulturelle und vor allem kolonisatorische Aufgaben übernehmen, die ihrerseits wieder zur Bildung neuer Stämme führten. Der Literarhistoriker Josef Nadler hat einmal versucht, in einem breit angelegten Werk die deutsche Dichtung aus diesen Stämmen und den von ihnen besiedelten Landschaften zu deuten. Seine Untersuchungen beweisen, wie stark die geistigen Kräfte der deutschen Stämme waren: stark genug für große kulturelle Leistungen, stark genug für kolonisatorische Aufgaben und im Guten wie im Schlechten stark genug, um den Gang der deutschen Geschichte immer wieder entscheidend zu beeinflussen. Selbst die Könige, die über das Reich herrschten, waren von diesen Stämmen geprägt, aus denen sie hervorgingen. Und fast jeder Stamm stellte eines der großen Herrschergeschlechter. Zuerst für ein Jahrhundert die Sachsen, ihnen folgten die salischen oder fränkischen Könige und danach die schwäbischen Staufer. Mochten die Habsburger wie die Staufer aus alemannischem Stamm kommen, so prägte sie doch in der Folgezeit baierisch-österreichisches Wesen.
Zur Zeit der Sachsenkönige, im 10. Jahrhundert, wurde die alte Stammesgliederung noch bewusst empfunden. So schrieb der Mönch Widukind von Corvey in seiner Chronik bei der Schilderung der Schlacht auf dem Lechfeld:
Die erste, zweite und dritte Abteilung bildeten die Baiern, ihnen folgten die Franken, deren Führer Herzog Konrad war. In der fünften, der stärksten, die auch königliche genannt wurde, war König Otto selbst
(Anm.: d.h. mit sächsischen Kriegern)... die sechste und siebte Schar machten die Schwaben aus...
Aber nicht in blutigen Kämpfen und spektakulären Siegen wie hier 955 über die Ungarn manifestierten sich die großen Leistungen der deutschen Altstämme. Es war vielmehr das jahrhundertelange Ringen um neues und
erweitertes Siedlungsland, das ihnen nach einer Zeit der Ruhe wichtige Aufgaben brachte und in der Folge zum Entstehen der deutschen Neustämme führte, die man mit dem Begriff jüngeres Stammesherzogtum
von den
Stämmen der Merowingerzeit abhebt. Neue Namen gesellten sich nun zu den alten Stammesbezeichnungen, die ihrerseits, wie wir gleich hören werden, wesentliche Wandlungen und vor allem bis zum ausgehenden Mittelalter
auch Einschränkungen erlebten und sich dann nicht mehr in den alten Herzogtümern, sondern in den neuen deutschen Territorialstaaten spiegelten.
Begonnen hatten das Siedlungswerk die Baiern. Noch unter den Agilolfingern griffen sie im 8. Jahrhundert über die Donau in den sogenannten Nordgau
über, jenes damals weitgehend von Urwald bedeckte Land zwischen
Pegnitz, Fichtelgebirge und Bayerischem Wald, wo zerstreut Slaven siedelten, die sich überwiegend den Neuankömmlingen anglichen und nur selten vor ihnen zurückwichen. Wie die Jahresringe eines Baumes sein Wachstum erkennen
lassen, so zeigen Jahrhundert für Jahrhundert gewisse Grenzpunkte deutlich den Weg der baierischen Siedler, die zahlreiche Kolonistendörfer anlegten. Noch heute erinnern die Ortsnamen auf -reut, -brand, -hau u.a. an das harte
Rodungswerk. Um 800 bildete Premberg den Grenzpunkt, um 900 hatte man schon die Luhe erreicht, und so ging es Stück um Stück weiter, bis zu Beginn des 12. Jahrhunderts die Kolonisation auf das heutige Regnitzland bei Hof
übergriff. Die kleinen Leute trugen dabei die harten Rodungslasten, die Lenkung lag in den Händen einiger bedeutender Adelsgeschlechter, nicht zuletzt aber auch bei den Mönchsorden, deren Klöster die geistigen und
wirtschaftlichen Mittelpunkte der Rodungsgebiete bildeten.
Noch ausholender als im Nordgau war die Kolonisationsbewegung des baierischen Stammes im Osten und vor allem Südosten. Auch hier machten die Agilolfinger den Anfang, und die Babenberger setzten das Werk fort, als ihnen
Kaiser Otto II. das Gebiet zwischen Enns und Leitha als Ostmark
zur Sicherung und Kolonisation übertrug. So wurde es zur Keimzelle des späteren Herzogtums Österreich. Hier wie auch in Kärnten und der Steiermark,
wo die Baiern schon seit der Mitte des 8. Jahrhunderts Fuß faßten, verbanden sich Grenzsicherung und Kampf gegen Awaren, Ungarn und Slawen bis ins 11. Jahrhundert mit Kolonisierung und Germanisierung. In der Krain reichten die
baierischen Stammeskräfte nicht mehr aus, und es blieb bei deutschen Sprachinseln im slawischen Gebiet.
Nur wenig später setzte die Neusiedlung auch an den Ostgrenzen des sächsischen Herzogtums ein. Kaiser Otto der Große hatte es an Markgraf Hermann Billung übertragen. Er und sein Nachfolger trieben die Kolonisierung vor allem im Nordosten energisch voran. Unterstützt wurden sie dabei von verschiedenen sächsischen Grafenhäusern, allen voran von den jüngeren Brunonen von Braunschweig. Nach einer Zeit des Stagnierens erlangte Sachsen dann im 12. Jahrhundert neue Bedeutung unter den aus Süddeutschland kommenden Welfen. Ein alemannisches Geschlecht übernahm damit die Führung des sächsischen Stammes und erschloss ihm neue Aufgaben. Nicht nur, daß Heinrich der Löwe dem Herzogtum machtvolle Unabhängigkeit und geradezu eine Sonderstellung im Reich verschaffte, sondern er trieb auch die Ostkolonisierung wieder energisch voran und eroberte östlich der Elbe Teile des heutigen Mecklenburg und Vorpommern. Aber der Sturz Heinrichs des Löwen nach seiner Auseinandersetzung mit Kaiser Friedrich Barbarossa bedeutete das Ende dieses sächsische Stammesherzogtums. Mehr noch: auch das Ende des alten Stammesnamens, der für die deutsche Stammesgeschichte einmalig und daher den Laien verwirrende Wandlung erfuhr.
Eine dynastische Umgruppierung bildete dabei das auslösende Moment: denn nach dem Sturz Heinrichs des Löwen erhielten die Landgrafen von Thüringen die Würde des Sächsischen Pfalzgrafen
, der die Königsgüter in
Sachsen zu verwalten hatte. Von ihnen ging sie hundert Jahre später an die Markgrafen von Meißen aus der Familie der Wettiner über. Diese hatten seit dem Ende des 11. Jahrhunderts an der Oberelbe das Siedlungswerk energisch
vorangetrieben, Bauern und Bürgern vor allem aus fränkischen Gebieten, aber auch vom Niederrhein und aus Flandern in ihre Markgrafschaft geholt, wo sich die ansässige slawische Bevölkerung willig anglich und mit ihnen zu
einem Neustamm verschmolz, dem nur ein Name fehlte. Er erhielt ihn durch die Politik seines Herrschergeschlechts, das sich mit der ihm zugefallenen Würde des sächsischen Pfalzgrafen nicht zufriedengab, sondern
1423 unter Friedrich dem Streitbaren das alte Restherzogtum Sachsen erwarb.
Die dynastischen Streitigkeiten und Winkelzüge interessieren uns dabei nicht. Wohl aber die Tatsache, daß nun der wichtige Name Sachsen
auch auf allen anderen Besitzungen der Wettiner überging, die von Thüringen
bis zum Erzgebirge reichten. Schon bald wurde er dort so heimisch, dass in der Kreisteilung von 1512 eindeutig zwischen Sachsen und Sachsen geschieden werden mußte, um Verwirrungen zu vermeiden. Deshalb wurde der Rest des alten
Stammesgebietes Sachsen und die dazugehörigen Neusiedelgebiete östlich der Elbe niedersächsischer Kreis
genannt und seine Bewohner Niedersachsen. Dieser Name wiederum wanderte westwärts über die Weser, wo ihn auch
die Westfalen im Westteil des alten Herzogtums übernahmen. Die wettinischen Besitzungen aber wurden zum obersächsischen Kreis
. Und seine Bewohner zeigten sich beharrlich genug, um das Ober
einfach
zu ignorieren. Sie wurden zu den eigentlichen Sachsen, wie wir sie heute kennen, während die echten
Sachsen fortan ihr Nieder
behalten mussten.
Nicht allen Altstämmen war es wie den Franken, Sachsen, Baiern und Schwaben gelungen, ihre eigenen Herzogtümer zu begründen. Das alte thüringische Stammeskönigreich war, wie wir schon kurz hörten, von den Franken vernichtet worden. Der Stamm aber blieb in Thüringen erhalten. Um 1130 waren die Ludowinger zu Landgrafen erhoben worden. Symbol ihrer Macht und ihres Ansehens wurde die von ihnen oberhalb Eisenachs erbaute Wartburg, wo der Hof der Landgrafen in staufischer Zeit als einer der bedeutendsten kulturellen Mittelpunkte des Reiches galt. Die Macht der Landgrafen verhinderte im hohen Mittelalter die Bildung neuer kleinerer Territorialfürstentümer auf thüringischem Boden, aber schließlich siegten auch hier die dynastischen Veränderungen, und die Landgrafschaft wurde zum Nebenland der erwähnten obersächsischen Wettiner.
Ähnliche politische Schicksale erlebte der Stamm der Hessen, der seine Herkunft wahrscheinlich von den schon bei Tacitus erwähnten Chatten ableitet. Die enge Nachbarschaft zu den Franken beeinflusste sein Wesen, behinderte zugleich aber auch eine eigene politische Entfaltung. Ursprünglich Teil des fränkischen Herzogtums, sank das hessische Stammesgebiet schon im ausgehenden 10. Jahrhundert zu politischer Bedeutungslosigkeit herab, bis dann im Dreieck zwischen Werra und Eder und am Oberlauf der Lahn die Landgrafschaft Hessen entstand, die nicht nur den Stammesnamen behielt, sondern auch zur Keimzelle neuer Landesfürstentümer wurde.
Unter fränkische Herrschaft und fränkischen Einfluss waren auch die Friesen geraten. Zwar demonstrierten sie mit Deichbau und Küstenschutz schon früh ihre Tatkraft, erlangten aber nur geringe politische Bedeutung. Ihr ausgeprägter Freiheitswille führte im hohen Mittelalter zur Gründung zahlreicher kleiner und kleinster Bauern- und Seefahrerrepubliken, oft nicht größer als eine Dorfgemeinschaft und geführt von eigenen Häuptlingen. Trotz solcher Zersplitterung wussten sie sich erfolgreich gegen fürstliches Machtstreben zu wehren. Erst 1454 wurde einer ihrer Anführer zum Grafen von Ostfriesland erhoben und war mächtig genug, einen Teil des Landes unter seiner Herrschaft zu vereinen. Sein Traum, aus Ostfriesland ein Großfriesland zu machen und damit den ganzen Stamm zu einen, ließ sich nicht verwirklichen: Westfriesland, das Land westlich der Ems, fiel an Burgund und später an die Niederlande, der Norden ging in Schleswig-Holstein auf.
An dieser Stelle können wir einhalten und Bilanz ziehen.
Aus den Stämmen der Völkerwanderungszeit waren, wie wir hörten, die großen Herzogtümer erwachsen. Im hohen Mittelalter begann ihr Zerfall in zahlreiche kleine Territorialstaaten, in deren Namen sich gelegentlich noch der alte Stamm spiegelte, aus dem sie hervorgegangen waren. Die Ostkolonisation, die letzte große Leistung der Altstämme, erschloss aber nicht nur neues Siedlungsland, sondern führte zugleich auch zur Bildung neuer Stämme. Ein Musterbeispiel dieser Entwicklung haben wir bereits mit Obersachsen kennengelernt. Nordöstlich der Elbe waren durch die Askanier in der sogenannten Markgrafschaft der Prignitz und in der Mittelmark Einwanderer aus dem Harz und aus dem niedersächsischen und flämischen Raum angesiedelt worden, die seit dem 12. Jahrhundert als Brandenburger oder Märker einen weiteren Neustamm bildeten.
Deutsche Neustämme entstanden auch im Zuge jener Siedlungsbewegungen, die von einheimischen slawischen Fürsten etwa seit dem 12. Jahrhundert eingeleitet wurden, indem sie deutsche Bauern in ihre Länder riefen. So folgten niedersächsische und flämische Siedler den Werbungen der Pommernherzöge an die südliche Ostseeküste etwa zwischen Rügen und der Danziger Bucht und bildeten hier bald mit der ansässigen westslawischen Bevölkerung den Neustamm der Pommern. Ebenfalls niedersächsische und flämische Siedler waren es, die der Obotritenfürst Pribislaw und seine Nachfolger nach Mecklenburg riefen, wo sie sich mit der einheimischen slawisch-wendischen Bevölkerung vermischten. Der ostpreußische Neustamm erwuchs aus den baltischen Pruzzen und den eingewanderten Deutschen, zu denen sich seit dem 15. Jahrhundert noch Masuren und Litauer gesellten. Nachfahren der von den Piastenfürsten seit dem 13. Jahrhundert beiderseits der mittleren Oder angesiedelten Bauern und Neubürger aus Franken, Thüringen und Hessen, zum kleineren Teil auch aus Baiern, Schwaben und Niedersachsen wurden die Schlesier als jüngster deutscher Stamm. Ihr Name allerdings führt zurück in die germanische Zeit und leitet sich von dem vandalischen Teilstamm der Silinger ab, die vor der Völkerwanderung an der Oder siedelten. Unter der Führung der Piastenherzöge, die ihrerseits mit verschiedenen deutschen Fürstenhäusern versippt waren, trieben die Kolonisten das Siedlungswerk in der Oderniederung wie an den Gebirgshängen energisch voran und gründeten bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts bereits rund hundert Städte und mehr als tausend Dörfer.
Gegen Ende des Mittelalters war die Bildung der Neustämme ebenso abgeschlossen wie die Auflösung der alten Stammesherzogtümer. Stammesgeschichte wurde von nun an zur Territorialgeschichte, geprägt von großen, kleinen und
kleinsten Dynastien. Nur gelegentlich besann man sich, wenn es nützlich schien, auf die alten Stammestraditionen. Aber die unselige politische Zersplitterung des alten römisch-deutschen Kaiserreiches behinderte den
Zusammenschluss und das Zusammenwachsen der alten und neuen Stämme zur Nation. Noch 1813 klagte Ernst Moritz Arndt in seinem einst viel gesungenen Lied Was ist des Deutschen Vaterland?
über diese nicht zuletzt auch
durch die deutschen Stämme verursachte Aufsplitterung. Die so lange herbeigesehnte Einigung nach 1871, bei der auch die verschiedenen Stammeseigenarten noch einmal sehr deutlich beschworen worden waren,
brachte nur für ein paar Jahrzehnte eine gemeinsame Ordnung.
Der katastrophale Ausgang des Zweiten Weltkriegs führte nicht nur zur erneuten politischen Teilung der deutschen Nation (verbunden mit millionenfacher Flucht und Vertreibung), sondern auch zur Herauslösung von Neustämmen
oder deren Teilen aus ihren jahrhundertealten Wohnsitzen. Das gilt besonders für die Ostpreußen und Schlesier, aber auch für die Deutschen aus den Randgebieten Böhmens und Mährens, einstmals Siedler aus Bayern, Obersachsen und
Schlesien, die seit ihrer Vertreibung als eine Art Neustamm
gesehen werden, wenn etwa heute in Bayern neben Altbayern, Franken und Schwaben von den Sudetendeutschen als dem vierten bayerischen Stamm
gesprochen wird.